Ich bin eine von etwa 3,5 Millionen Berliner/innen. Lebe in der Anonymität der Großstadt. Wohne in einem verschlafenen Bezirk. Bin eine Stubenhockerin und arbeite meistens online.

Freitagnachmittag. Halb fünf ist Kaffeezeit. Seit Neuestem gibt es bei uns um die Ecke das Café Kurve. Eine Einrichtung zur Rehabilitierung psychisch kranker Menschen. Erst nur Café, jetzt auch mit Eisdiele.

An der Straßenkreuzung steht eine Kastanie, auf dem Trottoir ein paar Holztische. Es herrscht Selbstbedienung – und Trubel. Fast wie in Prenzlauer Berg, frei nach dem Motto „Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter“. Mütter und Kleinkinder, mit und ohne eisverschmiertes Gesicht bestimmen den Lärmpegel. Die Rhabarbersaftschorle hat genau den richtigen Zisch, bloß der kleine Russenjunge nervt mit seinem ferngesteuerten Auto.

S. kommt zu uns an den Tisch und plaudert mit uns über Gott und die Welt, Baumscheibenbegrünung, Yoga und die Tempelretter. Neben uns sitzt K., die leicht brummelige Organisatorin der Bildungsstätte. M., die Besitzerin des anderen Lieblingscafés, schiebt ihre Tochter im Buggy vorbei und winkt uns zu.

Auf dem Weg hierher hab ich in meiner Lieblingsbuchhandlung vorbeigeschaut, beneide meine Lieblingsbuchhändlerin um all die vielen Bücher, die sie einfach so lesen darf und kann und freue mich, dass es diese Buchhandlung gibt – und die netten Menschen, die dort arbeiten.

Ich radle zum Bambusstäbchen, meinem favorisierten Vietnamesenlokal. Mister Ngoc, auf seine sehr distanzierte Art sehr freundlich, nimmt meine Abendessenbestellung gleichmütig auf: „Saigonrollen. Kommen sofort. Die Wartezeit vertreibe ich mir mit meinem neuen Buch: „Mama, jetzt nicht. Alltagsepisoden von Daniel Glattauer“. Ich wundere mich über meine Daumen, die das Buch vorne festhalten. Sie sehen heute so anders aus. Ich bin mir nicht sicher, ob ich erkennen würde, wenn ich sie und die anderen Finger auf einem Bild sähe, ohne den Rest meines Körpers. Wäre das nicht mal eine spannende Frage: Kennen Sie Ihre eigenen Hände? Vielleicht ist das auch nur eine Nerd-Frage ohne irgendeine gesellschaftlichspolitische Relevanz.

Mit den Reispapierröllchen fahre ich heim. Und dem Nachbarn aus dem Erdgeschoss fast über die Füße, als er um die Ecke biegt. Wir haben schon gemeinsam im Vorgarten gebuddelt, grinsen uns an und gehen bzw. fahren unserer Wege.

Noch während ich mich um das Fahrrad verrenke, um es zwischen den anderen Drahtesel an dem viel zu engen Ständer anzuschließen, werde ich von hinten von meinen liebsten polnischen Nachbarn umarmt. Wir sehen uns viel zu selten und freuen uns über jede Gelegenheit. Wieder ein netter Plausch, mir ist ganz warm ums Herz.

Ich bin zwar nur eine von etwa dreieinhalb Millionen, aber das hier ist mein Kiez, hier bin ich zuhause. So zuhause, wie es jemand sein kann, der nicht weiß, wo genau seine Wurzeln sind nach ungefähr 20 Umzügen. Hier reicht zwei Mal um den Block fahren, um die Heimatperlen aufzusammeln und über dem Computer aufzuhängen. Es ist eben beides das richtige Leben, drinnen und draußen.