ADVENT KURZETEXTE

14. Dezember // Ihr Kinderlein wartet

Foto: Victor Rodriquez/Unsplash

Seit mehr als zwei Stunden wartete Elisabeth auf diesem dunklen ungemütlichen Bahnhof auf ihren Zug. Mehr und mehr Menschen standen eng an eng, redeten, schimpften, scrollten durch ihre Handies. Elisabeth hatte ihre Koffer rechts und links neben sich abgestellt, mit der Hundeleine verbunden – die ein Geschenk für den Hund ihrer Enkelin Sara sein sollte – und sich die Leine um die Hüfte geschlungen. Sie rieb ihre Hände aneinander, würden die Wollhandschuhe doch Funken sprühen, dann würde ihr wenigstens etwas warm werden. Wo blieb nur der Zug?

Um drei Uhr in der Früh war sie aufgestanden und mit Sack und pack zum Bahnhof marschiert. Der Weg war nur einen Kilometer lang,der Bahnhof lag ja direkt am Dorfeingang. Um halb vier war ihr Bummelzug in die Kreisstadt pünktlich losgefahren und auch rechtzeitig angekommen. Elisabeth hatte ihre Fahrt nach Kiel mit viel Pufferzeit geplant. Den 4. Advent wollte sie dort feiern, einen Tag später den Geburtstag ihrer Tochter Nele und auch Heiligabend war Familienzeit. Seit Hartmuts Tod hatte sie immer Weihnachten gemeinsam gefeiert. Doch zum ersten Mal nicht bei Elisabeth auf dem Hof, sondern bei Nele und ihrer Familie. Nele war ja hochschwanger und wollte nicht mehr reisen. „Ich hoffe auf ein Christkind“, hatte sie am Telefon gesagt, „und zum Christkind kommt man, das fährt nirgendwo hin. Und du bist“, hatte sie zu ihrer Mutter gesagt, „du bist ja eine von meinen drei heiligen Königinnen. Bitte komm zu uns.“

Und deswegen stand Elisabeth jetzt auf dem Bahnhof der Kreisstadt und kam nicht weiter. Die Zugzielanzeiger waren ausgefallen, Bahnpersonal war nirgends zu sehen, niemand wusste, wie und wann es weitergehen würde, auch wenn alle versuchten, online mehr zu erfahren.

„Ob es den drei Weisen in Bethlehem wohl auch so gegangen war“, dachte Elisabeth, „irgendwo gestrandet, weil niemand Richtung Krippe fuhr? Oder wollten die damals vielleicht ganz woanders hin und waren in Bethlehem gelandet, weil ihr Kamel den falschen Weg genommen hatte?“ Sie setzte sich auf ihren Koffer und schloss die Augen.

Foto: Victor Rodriquez/Unsplash

(nach einer Idee von Christine Kämmer / Adventskalenderschreiben)