Es ist schrecklich. Nichts verstehe ich, habe gefühlte 20 Füße, die durcheinander geraten, meine 12 Knie drehen sich in alle Richtungen, Arme? Hände? Warum auf einmal so viele, und wo soll ich hin mit ihnen?

Fitnesstudio. Zumba-Kurs. Sie wissen nicht, was das ist? ich sag es ihnen: reine Folter. Aerobic-Bewegungen zu lateinamerikanischen Rhythmen in doppelter Geschwindigkeit. In einem fensterlosen Raum mit einer Spiegelwand. 50 Frauen (und zwei Männer) und eine Trainerin, die einer modischen Sportzeitschrift entsprungen ist. „Einfach mitmachen und Spaß haben.“ Haha.

Wer ist diese Frau da im Spiegel? Die große mit dem Schlabber-T-Shirt und der ausgeleierten Trainingshose, in den ausgelatschten Outdoor-Jogging-Schuhen in schlammgrau? Die mit dem angestrengten Blick, dem debil geöffneten Mund und heraushängender Zunge, immer zwei Takte hinter dem Rest? Darf ich vorstellen, das bin ich, die Frau mit dem Tanzstundentrauma.

Ich war 13, Schülerin eines Mädchengymnasiums in einer sauerländischen Kleinstadt. Der Tradition gehorchend, gehe ich in der Mittelstufe mit meiner Klasse in die Tanzstunde. Unsere Partner: die nächsthöhere Klasse der nachbarlichen Jungengymnasiums. 34 Jungs. 35 Mädchen. Raten Sie, wer das Mauerblümchen war?

Genau dieses Mauerblümchen steht heute zum ersten Mal im Zumbakurs. Jahrzehnte nach dem sauerländischen Tanzstundendesaster. Ich brauche keine fünf Minuten, um mich wieder wie 13 zu fühlen. Unbeholfen, unrhythmisch, unbeachtet.

Fünf Minuten, in denen alle, wirklich alle Gefühle des Teenagers in Lichtgeschwindigkeit an die Oberfläche kommen: Wut, Zorn, Trauer, Beleidigtsein. Meine Mutter würde an dieser Stelle sagen, „sei doch nicht immer gleich mit dem Arsch rum“, aber selbst das würde ich mir hier und jetzt nicht im Takt gelingen.

Ich will mich hinschmeißen, laut schreien, wütend auf den Boden einhauen. Mir ist die Peinlichkeit dieser Gedanken schon sehr klar, und ich bin froh, dass ich keine 13 mehr bin (dann würde ich genau das nämlich tun), sondern eine scheinbare erwachsene Frau: ich fresse den Zorn in mich rein und  tue, als würde mich meine Taktlosigkeit überhaupt nicht berühren.

Meine Sturheit, ebenfalls in Jugendjahren entstanden und bis heute fast zur Perfektion entwickelt, verhindert, dass ich aufgebe (mein Therapeut hat mir dafür den positiven Begriff „Zielstrebigkeit“ eingeimpft). Diese Stunde mache ich noch zu Ende. Und dann komme ich nie wieder.

Die Trainerin pusht uns ohne Ende, manchmal selbstverliebt ohne einen Blick vom Spiegel zu nehmen, manchmal erklärt sie sogar in Trockenübung, wie die Schritte ablaufen. Ich bin eine Kopfarbeiterin. das heißt, ich erkläre mir rational, wie Dinge funktionieren, wie die logische Abfolge ist, wie das eine zum anderen kommt. Tja, diese Methode funktioniert beim Tanzen nur bedingt. Während die Trainerin uns Salsa (wahlweise Merengue, Samba, Cumba und wie sie alle heißen) vortanzt, will mein Gehirn ihre Schritte seitenverkehrt übersetzen, denn sie steht ja andersrum, also muss ich auch andersrum tanzen.

Und dann bin ich auch noch Synästherikerin, d.h. wo andere nur sehen oder hören oder fühlen, bin ich etwas sinnendurcheinander:  jeder Ton ist eine Farbe, jeder Rhythmus hat ein Bild. Und wenn ich das nicht sehe, klappt’s auch mit dem Tanzen nicht.

Früher konnte ich mich nicht führen lassen, heute komme ich auch allein nicht mit. Was ich hier erlebe, ist eine Kakophonie des Malkastens, eine atonale Symphonie, die mich umhaut. Wie sehr sehne ich mich danach, nicht länger taktlos zu sein, im Rausch der Musik mich treiben zu lassen und dabei nicht nur gut auszusehen, sondern Teil der Tanzenden zu sein und nicht Sand im Zumbagetriebe. Wie schön wäre es, nicht zu denken, nur zu tanzen und dabei noch lächeln zu können.

Doch trotz meiner Verzweiflung, ob Tanz und ich uns irgendwann nochmal nahe kommen, bin ich am Ende der Stunde nicht nur völlig entkräftet, sondern weiß, dass ich wiederkomme. Entweder bis ich es kann – oder bis ich Spaß dran habe.